NZZ vom 8.1.2024 – Künstliche Intelligenz im Einsatz auf dem Bau

Ein Zürcher Startup hat eine App entwickelt, die den Arbeitsalltag auf der Baustele grundlegend verändert


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An diesem Dienstagmorgen ist auf der Baustelle in Winterthur wenig los. Der Monteur Tigran Zacheriagis bringt gerade Brandschutzelemente an. Er geht bei seiner Arbeit anders vor als viele seiner Berufskollegen. Bevor er morgens beginnt, konsultiert er sein Smartphone. In einer App sieht er, welche Arbeiten an diesem Tag anstehen. Hat er eine Aufgabe erledigt, macht er ein Foto vom Ergebnis, lädt es hoch und hakt die Aufgabe ab. Es sei leicht, damit zu arbeiten, sagt Zacheriagis, er spare dadurch viel Zeit und es gebe weniger Missverständnisse.


Entwickelt hat die App das Zürcher Startup Benetics. «Das Wichtigste ist, dass alle Beteiligten des Projekts auf die Baupläne zugreifen können und wissen, wo sich die anderen befinden und woran sie gerade arbeiten», sagt Ferdinand Metzler, CEO und Co-Gründer. Zacheriagis kann auch eine Sprachnachricht auf Griechisch aufnehmen und sie an seinen portugiesischen Kollegen verschicken. «Die Sprachnachricht wird in Text umgewandelt und in die Muttersprache des Nutzers übersetzt», sagt Metzler.


Mehr Funktionalitäten als bei Büro-Apps


Auf dem Bau, wo verschiedene Nationalitäten zusammenarbeiten, kommt es oft zu sprachlichen Missverständnissen. Die Handwerker haben ausserdem wenig Zeit, während der Arbeit zu chatten. Daher fasst die App die Inhalte aus allen Kanälen zusammen und schlägt auf dieser Basis eine Antwort vor, die der Bauarbeiter nur noch anpassen muss.


Die App bietet den Bauarbeitern mehr Möglichkeiten als viele Tools, die Büroangestellte für die Kommunikation nutzen. Die jüngsten Fortschritte im Bereich der generativen KI sind bereits eingeflossen. «Wir nutzen Open AI und haben die KI mit bauspezifischen Fachausdrücken trainiert», sagt Aaron Shon, Co-Gründer von Benetics, der für den Technologiebereich zuständig ist. «Gegenwärtig arbeiten wir an unserem eigenen KI-Modell, das die Feinheiten der Bauindustrie noch besser abbildet.»


Ein nächster Schritt in der Entwicklung sei, die Handwerker mit der App beim Lösen von Problemen zu unterstützen: Schwierige Fälle und die Art und Weise, wie diese bearbeitet wurden, sollen in der App dokumentiert werden, damit Kolleginnen und Kollegen daraus lernen können. Shon leitete zuvor bei Google ein grösseres Team von Softwareingenieuren. Der dritte Gründer, Johan Tibell, arbeitete 15 Jahre beim amerikanischen Technologiekonzern.


Teure Fehler auf dem Bau


Colin Jäger, Chef des auf Brandschutzsysteme spezialisierten Planungs- und Produktentwicklungsbüros AM Contract Factory, der die App zusammen mit den Brandschutzsystemen an die Verarbeiter auf der Baustelle vertreibt, sieht in der App erhebliches Potenzial, um Fehler zu vermeiden. Denn die Arbeit auf der Baustelle sei fehleranfällig. «Fehler machen unter dem Strich rund 5 Prozent der Baukosten aus», sagt Jäger. Es sei nicht immer einfach, den Bauherren die zusätzlichen Kosten in Rechnung zu stellen.


Stefano Jud, Projektleiter Brandschutz bei der Firma Jada Isolierungen, welche das Fireshield-Brandschutzsystem von AM Contract Factory in den Gebäuden installiert, sieht das Tool als Möglichkeit, um deutlich effizienter zu arbeiten. Das Unternehmen muss beispielsweise für die Brandschutzbehörden Rapporte erstellen. Bisher hatten Zacheriagis und seine Arbeitskollegen die Rapporte meist mit Verzögerung – häufig sind sie erst an den Wochenenden dazu gekommen – ausgefüllt und einem Mitarbeiter weitergegeben, der alle Informationen im System elektronisch erfasste. «Das funktioniert jetzt viel einfacher, schneller und zuverlässiger», sagt Jud. Ausserdem wisse er immer genau, welche Aufgaben bereits erledigt worden seien und welche Arbeiten noch anstünden.


50 bis 80 Anrufe pro Tag


Juds Job als Projektleiter ist heute weniger hektisch. Früher hatte er 50 bis 80 Telefongespräche pro Tag geführt. Jeder Mitarbeiter meldete sich bei ihm, wenn er eine Arbeit abgeschlossen hatte, hinzu kam der Koordinationsbedarf mit anderen Gewerken (zum Beispiel den Elektrikern) sowie mit dem Bauleiter. Heute bewältigt er noch 30 bis 50 Anrufe täglich. Es seien weniger Rückfragen notwendig und der Koordinationsbedarf sei gesunken, sagt Jud. Den Effizienzgewinn, der durch die bessere Organisation entsteht, schätzt er auf rund 10 Prozent. Dies deckt sich mit den branchenweiten Zahlen von Benetics.


Für Jäger ist die Rechnung einfach: Die Arbeitskosten machen 60 Prozent aus, die Materialkosten 40 Prozent. «Wenn wir 10 Prozent effizienter arbeiten, haben wir 6 Prozent mehr Marge», sagt der Geschäftsführer. Dies sei eine erhebliche Steigerung für eine Branche, die Margen zwischen 5 und 10 Prozent erziele.


Aus Vorarbeitern werden Handwerker


Wird die Firma Jada Isolierungen Arbeitsplätze abbauen, weil Bauprojekte mit weniger Mitarbeitern umgesetzt werden können? «Nein», sagt Jud. Früher habe es auf der Baustelle viele Koordinationsprobleme gegeben. Die Vorarbeiter hätten viel kontrollieren, überwachen und dafür sorgen müssen, dass alles glatt laufe. Jetzt hätten sie mehr Zeit, um ihre Aufgaben als Handwerker zu erfüllen.


Baustellen sind streng hierarchisch organisiert, es herrscht oft ein ruppiger Umgangston, und es entstehen rasch Konflikte. Jäger hat festgestellt, dass es weniger Missverständnisse und Reibereien gibt, seit die Handwerker mit der App arbeiten. Die Bauarbeiter wüssten genau, was sie zu tun hätten und wie sie die Arbeit anpacken müssten. «Sie sind jetzt autonomer in ihrer Arbeitsplanung und kassieren weniger Rüffel des Vorarbeiters», sagt Jäger.


Bauarbeiter müssen es ausbaden


Viele Technologiefirmen bieten Lösungen an, die bei der Arbeit der Generalunternehmer, Projektleiter und Vorarbeiter ansetzen. Benetics dagegen hat die Bauarbeiter im Fokus. «Auf den Baustellen gibt jeder den Druck weiter, am Ende der Kette befinden sich die Bauarbeiter, die alles ausbaden müssen», sagt Metzler. Dies könne heutzutage nicht im Interesse pflichtbewusster Projektleiter und Manager sein.


Mit Benetics will er einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Arbeitsweise auf der Baustelle verändert, die Bauarbeiter eigenverantwortlicher arbeiten, mehr Wertschätzung erfahren, ihr Fachwissen stärker einbringen können und ihre Stimme gehört wird. Dadurch werde die Zusammenarbeit insgesamt effizienter. Dies sei auch für die Baufirmen von Vorteil, die händeringend nach Handwerkern suchten: «Firmen, denen es gelingt, auf den Stufen Vorarbeiter und Projektleiter Kosten zu senken, können die Löhne für die Bauarbeiter anheben.»


KI wälzt die Baubranche um


In der Bauindustrie, die zu den am wenigsten technologisierten Wirtschaftszweigen zählt, hinterlässt die Verbreitung von KI-basierten Anwendungen Spuren. KI wird etwa eingesetzt, um den Verbrauch von Baumaterialien zu optimieren, den Energieverbrauch zu senken sowie die Qualitätskontrollen und die Projektplanung zu verbessern. Drohnen überwachen Baustellen, oder spezialisierte Roboter verlegen Fundamente.


Implenia, der grösste Baukonzern in der Schweiz, sieht überall dort Anwendungsmöglichkeiten für KI, wo grosse Datenmengen analysiert werden müssen – von der Projektplanung bis zur Analyse der bestehenden Infrastruktur. In einigen grossen, komplexen Infrastrukturprojekten setzt der Baukonzern eine KI-basierte Software des amerikanischen Konzerns Alice Technologies ein. Die Software ermöglicht es, Hunderte von unterschiedlichen Szenarien zu simulieren und auf diese Weise die Terminplanung und die Arbeitsabläufe zu optimieren. Es brauche erfahrene Angestellte, um diese Simulationen durchzuführen, heisst es beim Baukonzern.


Daneben treibt Implenia weitere KI-Projekte voran. Erste Ergebnisse von Pilotprojekten zeigten, dass durch den Einsatz von KI-Anwendungen Projekte genauer geplant werden könnten, Zeit gespart werde und Schnittstellen besser koordiniert würden. Bei all den Anwendungen müsse man aber den Datenschutz im Auge behalten.


Zwei Welten prallen aufeinander


Das Baugewerbe blickt auf eine langanhaltende Phase stagnierender beziehungsweise rückläufiger Produktivität zurück. Das Marktumfeld dürfte künftig noch herausfordernder werden, weil das Bauen komplexer wird und die Regulierung in der Branche zunimmt. Die Baufirmen müssen schneller und günstiger werden.


Entsprechend drängen vermehrt Technologiefirmen in den Markt, die Lösungen anbieten, um die Prozesse zu vereinfachen und effizienter zu gestalten. Dabei prallen zwei Welten aufeinander: auf der einen Seite der traditionelle, meist lokal verankerte Bausektor, auf der anderen Seite die von neuen Technologien getriebene Startup-Branche.


Der Benetics-Chef verkaufte seine erste Firma an Zalando


Doch warum haben sich die drei Unternehmer für die Baubranche als Markt entschieden? Sie wollten ein Produkt entwickeln, das eine Wirkung in der realen Welt erzielt. Metzler hat selbst schon früh Berufserfahrung auf der Baustelle gesammelt. Er arbeitete dort während seines Studiums als Elektriker. Noch während seines Maschinenbaustudiums an der ETH Zürich gründete er das Softwareunternehmen Fision. Er holte junge Absolventinnen und Absolventen von der ETH und der EPFL an Bord und entwickelte mit ihnen zusammen eine 3-D-Body-Scanning-App.


Nutzerinnen und Nutzer erfassen ihre Körpermasse und können sehen, ob ihnen die im Onlineshop angebotenen Kleidungsstücke passen. Das Produkt stiess bei vielen Unternehmen auf grosses Interesse – und vor drei Jahren entschied sich Metzler, seine Firma an Zalando zu verkaufen und die Entwicklung innerhalb des Konzerns weiter voranzutreiben. Mittlerweile ist das Produkt als «Body Measurement»-Feature in den Onlineshop integriert.


So komplex wie nötig, so einfach wie möglich


Metzler selbst blieb noch bis im Frühjahr 2022 bei Zalando, dann sah er die nächste Geschäftschance und gründete Benetics. Das Unternehmen beschäftigt mittlerweile zwölf Angestellte, unter ihnen einige ETH-Absolventinnen und -Absolventen.


Die Freude der Entwickler sei so gross, dass er das Team manchmal bremsen müsse, sagt Metzler. «Wir machen nicht alles, was technisch möglich ist, sondern wir wollen die Probleme für die Kunden so einfach wie möglich lösen.» Komplexe Zusammenhänge zu durchdringen und aus technischen Möglichkeiten sinnvolle und alltagstaugliche Anwendungen zu machen, das ist der Antrieb des Benetics-Chefs.


Uberisierung der Baubranche?


Den Kundenstamm hat das Startup bereits erweitert. Es bietet nun auch für Immobilienbewirtschafter technische Lösungen an, um deren Koordinationsaufwand zu reduzieren. Die Gründer haben grosse Zukunftspläne. Es geht nicht nur um eine effizientere Organisation der Arbeitsabläufe, sondern auch um die Verwaltung der Kundendaten, die den Lebenszyklus von Bauobjekten von der Planung über den Bau bis zum Betrieb abbilden. Firmen sparen Kosten, weil sie etwa beim Umbau des Objektes oder bei Reparaturen auf frühere Daten zurückgreifen können.


Der Benetics-CEO sieht weitere Geschäftsmöglichkeiten und will die grossen Probleme in der Branche angehen: «Ich denke etwa an die korrekte Entlöhnung der Angestellten und an digitale Tools, um die Transparenz zu erhöhen und Korruption zu bekämpfen», sagt Metzler. Die KI-gestützte App diene als Basis, um entlang der gesamten Wertschöpfungskette weitere Anwendungen zu entwickeln.


Dass im Bausektor – analog zu Uber in der Taxibranche – irgendwann Plattformen dominieren werden, auf denen sich die Bauarbeiter direkt für Arbeitseinsätze auf verschiedenen Baustellen anmelden, damit rechnet Metzler nicht: Für eine Uberisierung sei der Bausektor zu komplex. Arbeit finde im Team statt, und die Regulierungsdichte sei hoch. Dennoch rechnet er mit einer grundlegenden Transformation der Branche. Es braucht immer weniger Personal für die Koordination, und organisatorisch rücken Bauleiter sowie Bauarbeiter näher zusammen.


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